Molekülionen unter Weltraumbedingungen eingefroren

Laborastrophysik mit Anionen im ultrakalten Speicherring CSR

Die Eigenschaften kalter negativer Molekülionen wurden am Beispiel des Anions OH im Ultrakalten Speichering CSR am Heidelberger MPI für Kernphysik untersucht. Unter Weltraumbedingungen wurde bei einer Umgebungstemperatur von weniger als 10 K die freie Strahlungskühlung von OH in den Rotationsgrundzustand verfolgt. Als „Thermometer“ dient die Messung der vom Rotationszustand abhängige Abtrennung (Detachment) des schwach gebundenen Elektrons durch Laserlicht. Die Analyse der Messdaten stellt das Wissen über die Wechselwirkung des Moleküls mit Infrarotstrahlung auf eine neue experimentelle Grundlage. [Physical Review Letters, 14.07.2017]

Molekülionen spielen eine wichtige Rolle bei chemischen Reaktionen in interstellaren Gaswolken und nehmen dabei eine Schlüsselposition zum Verständnis der Bildung von Molekülen im Weltraum ein (Abb. 1). Dank der Spektroskopie kann die beobachtende Astronomie durch die Analyse des Lichts aus solchen Gaswolken eine Fülle von Informationen gewinnen, was die Art der Moleküle, ihre Temperatur ect. angeht. Einer kontrollierten Untersuchung sind diese Lichtjahre entfernten Prozesse aber unzugänglich und auch theoretische Modelle können nur durch präzise Messdaten unter Laborbedingungen getestet werden. Insbesondere fehlt es für viele relevante Molekülionen an verlässlichen Daten zur Intensität des ausgesandten Lichts. Für diese „Laborastrophysik“ steht am Heidelberger MPI für Kernphysik (MPIK) mit dem Ultrakalten Speicherring CSR eine weltweit einzigartige Apparatur zur Verfügung. Diese erlaubt die Speicherung von Molekülionen unter Weltraumbedingungen bei extrem niedrigem Druck (weniger als 10–14 mbar) und Temperaturen wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt.

In einer in der Zeitschrift Physical Review Letters veröffentlichten Arbeit berichten die Physiker aus der Arbeitsgruppe von Andreas Wolf am MPIK über neue Untersuchungen zum negativ geladenen Molekül-Anion OH. Ziel war, die Abkühlung der im heißen Plasma einer Ionenquelle erzeugten Moleküle in der kalten Umgebung des Speicherrings zu verfolgen. Die Abkühlung zeigt sich in einem Abklingen der inneren Bewegung der Moleküle (Schwingung der Bestandteile gegeneinander und Rotation). Der Vorteil des Speicherrings CSR besteht darin, dass Stöße mit dem extrem verdünnten Restgas praktisch nicht zur Kühlung beitragen und stattdessen die freie Abstrahlung von Infrarotlicht (Wärmestrahlung) dominiert. In früheren Experimenten anderenorts war dies nicht möglich, da ein kaltes Puffergas zur Kühlung verwendet wurde. Voraussetzung ist freilich, dass die Speicherzeit länger als die typische Dauer der Strahlungskühlung ist – letztere wird durch die Lebensdauer des niedrigsten angeregten Rotationszustands bestimmt.

Um die Temperatur der OH-Ionen zu bestimmen, nutzen die Forscher folgenden Trick: Für das „Photodetachment“, also die Abtrennung des schwach gebunden zusätzlichen Elektrons durch Photonen (Lichtquanten), ist eine bestimmte Mindestenergie notwendig. Steht nun innere Anregungsenergie des Moleküls zur Verfügung, so ist diese Schwelle für das Detachment entsprechend niedriger. Misst man nun die Ausbeute an neutralen OH-Molekülen in Abhängigkeit von der Photonenenergie bzw. der zu dieser proportionalen Frequenz des eingestrahlten Laserlichts, so erhält man einen stufenweisen Anstieg entsprechend der Besetzung der Rotationszustände.

Direkte Lebensdauermessungen unter Weltraumbedingungen an niedrig liegenden, ausschließlich rotationsangeregten Zuständen in kleinen Molekülen wurden bisher noch nicht durchgeführt und beschrieben. Die Messungen ergaben für den untersten Rotationszustand eine Lebensdauer von 193 s, bzw. gut 3 min. Bei einer Speicherdauer von ca. 10 min bleibt somit genügend Zeit, bis sich ein thermisches Strahlungsgleichgewicht zwischen des im Ring kreisenden OH und der kalten Umgebung (6 K = –267°C) einstellt. Die Gleichgewichtstemperatur der Ionen beträgt nach den Messungen 15 K, wobei sich ca. 90% im Grundzustand befinden, also die Rotation praktisch komplett eingefroren ist (Abb. 2). Die Analyse der Daten liefert aber noch mehr – da sich die Zeitentwicklung des Kühlprozesses allein durch den Austausch von Infrarotstrahlung mit der Umgebung bestimmt, kann durch Anpassung eines einfachen theoretischen Modells an die Messdaten die Stärke dieser Wechselwirkung für die untersten drei Rotationszustände sowie deren Lebensdauer bestimmt werden.

Eine entscheidende Eigenschaft ist das sog. Dipolmoment, welches ein Maß für die Ungleichverteilung der Ladung im Molekül ist. Je größer das Dipolmoment, umso stärker ist die Infrarotaktivität des Moleküls. Stickstoff- und Sauerstoffmoleküle (N2, O2) z. B. haben aufgrund ihrer Symmetrie kein Dipolmoment und sind für Infrarotstrahlung praktisch transparent. Dagegen sind die sog. Treibhausgase aus polaren Molekülen wie Wasser (H2O), Kohlendioxid (CO2) oder Methan (CH4) infrarotaktiv und bestimmen den Strahlungshaushalt von planetaren Atmosphären. Für das Dipolmoment von OH fanden die Forscher einen auf 1,5% genauen Wert, der deutlich von bisherigen theoretischen Berechnungen abweicht.

Die Photodetachment-Spektroskopie im CSR ermöglichte erstmals präzise Labormessungen natürlicher Lebensdauern und Linienintensitäten für extrem langsame, reine Rotationsübergänge in molekularen Ionen. Die in dieser Form bisher nicht verfügbaren Daten erlauben den Test quantenchemischer Rechnungen. Zudem bildet die Auflösung einzelner Rotationsniveaus die Grundlage, um in zukünftigen Experimenten Änderungen der Besetzung von Rotationszuständen durch Molekülkollisionen im Speicherring zu untersuchen. Die Forscher erwarten weitere Verbesserungen und die Anwendung auf komplexere Molekül-Anionen.

_________________________________________________________

Originalpublikation:

Radiative Rotational Lifetimes and State-Resolved Relative Detachment Cross Sections from Photodetachment Thermometry of Molecular Anions in a Cryogenic Storage Ring
C. Meyer, A. Becker, K. Blaum, C. Breitenfeldt, S. George, J. Göck, M. Grieser, F. Grussie, E. A. Guerin, R. von Hahn, P. Herwig, C. Krantz, H. Kreckel, J. Lion, S. Lohmann, P. M. Mishra, O. Novotný, A. P. O’Connor, R. Repnow, S. Saurabh, D. Schwalm, L. Schweikhard, K. Spruck, S. Sunil Kumar, S. Vogel and A. Wolf
Phys. Rev. Lett. 119, 023202 (2017); DOI: 10.1103/PhysRevLett.119.023202

MPG-Presseinformation „Tiefkalte Moleküle auf der Umlaufbahn“

Presseinformation „Wie ein Molekül aus dem Rotieren kommt“

Abteilung „Gespeicherte und gekühlte Ionen“ am MPIK

_________________________________________________________

Kontakt:

Apl. Prof. Dr. Andreas Wolf
MPI für Kernphysik
Tel.: +49 6221-516-503
E-Mail: andreas.wolf@mpi-hd.mpg.de

Prof. Dr. Klaus Blaum
MPI für Kernphysik
Tel.: +49 6221-516-850
E-Mail: klaus.blaum@mpi-hd.mpg.de

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des MPIK

Puzzle.jpg
Abb. 1: Das Puzzle der Chemie in interstellaren Molekülwolken. Bildhintergrund: © NASA.

Rot-cool-OH-minus.png
Abb. 2: Kühlung der Rotationszustände J (Grundzustand J = 0) des CH-Anions im CSR.