Eine Schleuder für Elektronen in astrophysikalischen Plasma-Stoßwellen

Eine Gruppe der Theorieabteilung am MPIK hat einen schleuderähnlichen Prozess der Elektroneninjektion in vorturbulenten relativistischen Plasma-Stoßwellen identifiziert, der sich von der allgemein bekannten stochastischen Beschleunigung unterscheidet. Eine charakteristische Korrelation zwischen transienter Elektronendynamik und Merkmalen der Photonenemission ist eine wichtige Informationsquelle für die Erforschung astrophysikalischer und erdgebundener Plasmaszenarien.

Das Verständnis des Ursprungs extrem energiereicher kosmischer Strahlung und sehr hochenergetischer Gammastrahlung wirft die Frage nach der Teilchenbeschleunigung in astrophysikalischen Plasmen auf. Ein Mechanismus wurde bereits 1949 von Enrico Fermi in Form einer stochastischen Beschleunigung geladener Teilchen eingeführt, die mit bewegten Magnetfeldern wechselwirken. Ein Beispiel sind Plasma-Stoßwellen, die von Supernova-Überresten oder so genannten relativistischen kollisionsfreien Stoßwellen (RCS) in Pulsarwindnebeln, aktiven galaktischen Kernen und Gammastrahlenausbrüchen (GRB) ausgehen. Letztere sind die stärksten Explosionen im Universum. Beobachtungen des Nachleuchtens von GRB-Ereignissen deuten darauf hin, dass RCS eine Schlüsselrolle spielen, wenn sich die ultrarelativistische Explosionswelle in das äußere, schwach magnetisierte Medium ausbreitet. Die von GRB erzeugten RCS werden von Elektron-Positron-Paaren dominiert, die durch die intensive Gammastrahlung erzeugt werden.

In einer neuen Studie hat die von Karen Hatsagortsyan geleitete Gruppe „Relativistische und ultrakurze Quantendynamik“ der Abteilung von Christoph Keitel am MPIK das Verhalten solcher Plasma-Stoßwellen unter zunächst unmagnetisierten Bedingungen modelliert. Von besonderem Interesse ist dabei die Polarisation der aus dem Stoßwelle austretenden Photonen als potentielle und entscheidende Informationsquelle für die transiente Dynamik in astrophysikalischen Plasmen. In einem RCS führen Plasmainstabilitäten zu Filamentierung und selbst erzeugter Magnetisierung von Mikrostrukturen. Unter diesen turbulenten Bedingungen können Elektronen eine stochastische Beschleunigung erfahren, die dem Fermi-Prozess ähnelt. Der Übergang in den turbulenten Bereich ist jedoch noch weitgehend unerforscht. Um dies genauer zu verstehen und um herauszufinden, wie sich dieser Übergang auf die Beschleunigungs- und Strahlungseigenschaften im RCS auswirkt, setzten die Wissenschaftler eine Particle-in-Cell-Simulation (PIC) des RCS ein und untersuchten die Photonenemission mit besonderem Augenmerk auf das Polarisationsverhalten.

Zwei Szenarien wurden in Bezug auf das Verhältnis der Ionen zum Gesamtanteil der positiven Ladungen (einschließlich der Positronen) betrachtet. Bei niedrigem Ionenanteil (etwa 1 %) ist die Photonenemission nahezu isotrop, stammt aus dem turbulenten Bereich mit stochastischer Beschleunigung, und die Polarisation zeigt einen monotonen Anstieg mit der Photonenenergie. Im Gegensatz dazu führt ein hoher Ionenanteil (ca. 40%) zu einer Photonenemission, die aus dem Übergangsbereich des RCS stammt und stark entlang der Richtung des Plasmastroms gebündelt ist (siehe Abb. 1). Die Polarisation ist nicht mehr monoton und zeigt ein Minimum bei mittleren Energien sowie in der Winkelverteilung bei kleinen Emissionswinkeln.

„Dies kann durch eine schleuderartige Beschleunigung der Elektronen verstanden werden“, sagt Postdoc Zheng Gong, der die Abteilung kürzlich verlassen hat, um an der Stanford University zu arbeiten. Die Filamentierung in der vorturbulenten Region führt zu einer Fokussierung sich rückwärts bewegender Elektronen (in Abb. 1 mit "F" bezeichnet), die wiederum starke lokale elektrische Felder erzeugt. Diese Konfiguration ähnelt einer Schleuder, bei der die Filamente als Griff dienen, die rückwärts bewegten Elektronen mit fließenden Brennpunkten als elastische Schnur dienen und die injizierten vorwärts bewegten Elektronen als Geschosse (grüne Pfeile in Abb. 1). Unter diesen Bedingungen ist die Beschleunigung stark gerichtet und viel effizienter als das stochastische Verhalten in der turbulenten Region. Folglich ist auch die Photonenemission aus dem Schleuderprozess gerichteter und das Photonenspektrum ist zu höheren Energien hin verschoben. In Kombination führt dies zu einer allgemeinen Verringerung des Polarisationsgrades, zu der die Emission beider Mechanismen beiträgt.

Die hier identifizierten Mechanismen und die Abhängigkeit der Photonenpolarisation könnten in der Laborastrophysik unter Verwendung hochenergetischer Ionen- und Elektron-Positron-Strahlen getestet werden. Darüber hinaus erweist sich die Photonenpolarisation als wesentliche Sonde bei der Erforschung der transienten Dynamik in astrophysikalischen und erdgebundenen Plasmen.


Originalpublikation:

Electron Slingshot Acceleration in Relativistic Preturbulent Shocks Explored via Emitted Photon Polarization
Zheng Gong, Xiaofei Shen, Karen Z. Hatsagortsyan and Christoph H. Keitel
Physical Review Letters 131, 225101 (2023). DOI: 10.1103/PhysRevLett.131.225101


Weblinks:

Gruppe „Relativistic and Ultrashort Quantum Dynamics“ (Abteilung Keitel) at MPIK


Kontakt

Dr. Zheng Gong
Stanford University

Dr. habil. Karen Z. Hatsagortsyan
MPI für Kernphysik
Tel.: +49 6221 516-160


Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Dr. Renate Hubele / PD Dr. Bernold Feuerstein
Tel.: +49 6221 516-651 / +49 6221 516-281


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Abbildung 1: Simulation einer relativistischen kollisionsfreien Stoßwelle (RCS): Das Hintergrundbild ist eine Momentaufnahme der Elektronendichte. „F“: rückwärts laufende Fokuspunkte; grüne Pfeile: durch Schleudermechanismus injizierte Elektronen; gelbe Wellenlinien: Photonemission.