Suche nach Dunkler Materie mit neuer Methode

Die gängigsten theoretischen Modelle gehen davon aus, dass hypothetische Dunkle-Materie-Teilchen mit Atomkernen wechselwirken. Bisher ist es allerdings noch nicht gelungen solche Wechselwirkungen nachzuweisen. Die Wissenschaftler der XENON-Kollaboration haben nun neue Analysen entwickelt, mit denen sie die Daten des XENON100-Detektors erstmals auf Wechselwirkungen der Dunklen Materie mit Elektronen der Atomhülle hin untersucht haben. Die Auswertung ergab kein Signal über dem sehr niedrigen Hintergrund, was die Eigenschaften von Dunkler Materie weiter eingrenzt. Relevant ist diese Erkenntnis vor allem im Hinblick auf die Ergebnisse der DAMA/LIBRA-Kollaboration. Diese behauptet mit hoher Signifikanz ein Signal von Dunkler Materie entdeckt zu haben, wohingegen die Suche anderer Experimente nach Wechselwirkungen mit Atomkernen erfolglos blieb. Viele theoretische Modelle, die diese Diskrepanz durch eine angenommene Wechselwirkung der Dunkle-Materie-Teilchen mit Elektronen erklären wollten, sind damit hinfällig, was auch die Kontroverse um alternative Erklärungen des DAMA/LIBRA Signals wieder befeuern wird.

Schwach wechselwirkende schwere Teilchen, WIMPs genannt, sind aus theoretischer Sicht die wohl aussichtsreichsten Kandidaten für Dunkle Materie. In Experimenten sollten sie sich gelegentlich durch Stöße mit Atomkernen des Detektormaterials bemerkbar machen. Die Bewegung der Erde um die Sonne, die sich auf ihrer Bahn um das Zentrum der Milchstraße durch deren Dunkle-Materie-Halo bewegt, sollte weiterhin zu einer jahreszeitlichen Modulation des Signals führen. Das DAMA/LIBRA-Experiment hat mit seinem Natriumiodid-Detektor zwar eine solche Modulation über einen Zeitraum von 14 Zyklen gemessen, diese als WIMP-Signal zu interpretieren steht aber im Widerspruch zu den Ergebnissen mehrerer anderer Experimente.

Weil DAMA/LIBRA nicht zwischen Streuungen am Atomkern oder den Elektronen der Atomhülle unterscheiden kann, wären leichtere Teilchen, die nur an Elektronen streuen, eine mögliche Erklärung aller Daten. Deshalb haben die Wissenschaftler der XENON-Kollaboration jetzt in ihren Daten nach Hinweisen darauf gesucht und ihre Ergebnisse in zwei Arbeiten, die demnächst in „Science“ und „Physical Review Letters“ erscheinen werden, publiziert. Der XENON100-Detektor nutzt als Nachweismedium 62 kg flüssiges, ultrareines Xenon und misst die winzigen Ladungs- und Lichtsignale, die bei den seltenen Kollisionen von Dunkle-Materie-Teilchen mit Xenon-Atomen erwartet werden. Im Gegensatz zu DAMA/LIBRA ist eine Unterscheidung zwischen Streuung an Atomkernen und an Elektronen mit XENON100 gut möglich! Untergebracht ist das Experiment im italienischen Gran-Sasso-Untergrundlabor (LNGS), wo 1400 m Fels die störende kosmische Strahlung abschirmen. Um falsche Signale aufgrund der restlichen Radioaktivität in der Umgebung des Detektors auszuschließen, werden nur Ereignisse in den inneren 34 kg des flüssigen Xenons als mögliche Signale gewertet. Zusätzlich ist der Detektor durch Schichten von Kupfer, Polyethylen, Blei und Wasser abgeschirmt. Durch diese Maßnahmen ist die Rate störender Hintergrundsignale mehr als 100 Mal niedriger als bei DAMA/LIBRA und sogar geringer als die berichtete Amplitude der jahreszeitlichen Modulation.

Nichtsdestotrotz hat die XENON-Kollaboration ihre Daten auf die Streuung an Elektronen der Atomhülle auf zeitliche Variationen hin untersucht (siehe Bild 1). Entscheidend war dabei zu zeigen, dass der Detektor selbst während der circa 500 Tage, über die sich die 225 Tage Messzeit verteilten, stabil war. Dazu haben die Wissenschaftler alle relevanten thermodynamischen Parameter analysiert, sowie die Stabilität der Analyse und der Hintergrund-Beiträge betrachtet. Mit Hilfe einer speziellen Auswertemethode haben sie dann nach möglichen zeitlichen Variationen gesucht. Es zeigte sich keine signifikante Modulation in den Daten über Zeiträume von bis zu 500 Tagen – im Widerspruch zur Beobachtung von DAMA/LIBRA.

Die XENON-Forscher haben zudem unter verschiedenen Annahmen berechnet, wie das Signal von DAMA/LIBRA im XENON100-Detektor aussehen würde, wenn es von an Elektronen gestreuten Dunkle-Materie-Teilchen verursacht worden wäre. Der Vergleich dieser Erwartung mit den XENON100-Daten aus einem Zeitraum von 70 Tagen rund um das Maximum der jahreszeitlichen Modulation ist eindeutig: Kein Signal, sondern nur der erwartete Hintergrund (siehe Bild 2). Die aus dem vollständigen XENON100-Datensatz berechnete Obergrenze für die Wahrscheinlichkeit einer solchen Wechselwirkung ist so niedrig, dass das DAMA/LIBRA-Signal komplett ausgeschlossen werden kann.

Somit hält keines der untersuchten Modelle, das die DAMA/LIBRA-Daten konsistent mit den Ergebnissen anderer Experimente beschreiben könnte, der neuen Überprüfung durch das XENON100-Experiment stand. Folglich lässt sich das DAMA/LIBRA-Ergebnis nicht mit Dunkler Materie erklären, die nur an Elektronen streut.

_____________________________________________________________

Originalpublikationen:

Exclusion of Leptophilic Dark Matter Models using XENON100 Electronic Recoil Data
XENON Collaboration, arXiv:1507.07747 [astro-ph.CO] (28.07.2015), Science Vol. 349 no. 6250 pp. 851-854 DOI: 10.1126/science.aab2069

Search for Event Rate Modulation in XENON100 Electronic Recoil Data
XENON Collaboration, arXiv:1507.07748 [astro-ph.CO] (28.07.2015), Phys. Rev. Lett. (angenommen)

Seite zu XENON der Abteilung Lindner am MPIK

_____________________________________________________________

Kontakt:

Prof. Dr. Manfred Lindner
Tel.: 06221 516800
E-Mail: manfred.lindner@mpi-hd.mpg.de

Dr. Teresa Marrodán Undagoitia
Tel.: 06221 516803
E-Mail: teresa.marrodan@mpi-hd.mpg.de

Dr. Hardy Simgen
Tel.: 06221 516530
E-Mail: hardy.simgen@mpi-hd.mpg.de

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des MPIK

Bild1.png
Bild 1: Veranschaulichung des Analyseverfahrens. Rot eingezeichnet ist die von DAMA/LIBRA berichtete Rate mit ihrer jahreszeitlichen Modulation. Blau markiert sind die Tage, an denen XENON100 Daten aufgezeichnet hat, und zwar mit der mittleren Hintergrundrate. Der Bereich zwischen den grünen gestrichelten Linien zeigt einen Zeitraum von 70 Tagen im Sommer, an denen das modulierte Signal am größten sein sollte. Grafik: XENON-Kollaboration

Abbildung.png
Bild 2: Vergleich der XENON100-Daten mit DAMA/LIBRA. Die rote Kurve (mit statistischen und systematischen Unsicherheiten) zeigt, wie das DAMA/LIBRA-Energie-Spektrum der jahreszeitlichen Modulation von XENON100 gesehen würde, falls es von mit Elektronen wechselwirkenden WIMPs verursacht worden wäre. Die blauen Datenpunkte stammen von XENON100 aus den 70 Tagen rund um das Maximum der Modulation; sie sind deutlich kleiner als das DAMA/LIBRA-Spektrum und stimmen innerhalb der statistischen Unsicherheit mit den erwarteten Hintergrundereignissen überein. Grafik: XENON-Kollaboration