Der Neutrinomasse auf den Fersen

Seit 2010 fahndet das GERDA-Experiment nach einem extrem seltenen radioaktiven Zerfall: dem neutrinolosen doppelten Beta-Zerfall, mit dessen Existenz sich gleich mehrere Physikprobleme lösen ließen. Er würde Aufschluss darüber geben, ob Neutrinos mit ihren Antiteilchen identisch sind und was der Ursprung ihrer Masse ist. Außerdem würde er helfen zu verstehen, warum es im Universum praktisch keine Antimaterie gibt. Wie die aktuellen, jetzt in Science veröffentlichten Daten zeigen, lässt dieser Nachweis – und damit eine wissenschaftliche Sensation – aber weiter auf sich warten. Dennoch sind die Wissenschaftler*innen einen großen Schritt weiter: Das Experiment ist so empfindlich geworden, dass die Halbwertszeit dieses Zerfalls mehr als unvorstellbare 1026 Jahre betragen muss.

Rätsel der Neutrinos

Im Standardmodell der Teilchenphysik ist für das Neutrino keine Masse vorgesehen. Dem widersprechen jedoch experimentelle Beobachtungen. Bei ihrer Reise durch das Universum wandeln sich die drei bekannten Neutrino-Arten (Elektron-Neutrino, Myon-Neutrino, Tau-Neutrino) ineinander um – ein Vorgang, für den Masse zwingend erforderlich ist. Diese 2015 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnete Entdeckung ist auch die erste und bisher einzige, die nicht mit den Vorhersagen des Standardmodells übereinstimmt.

Seit Langem gibt es die Vermutung, dass Neutrinos keine „echten“ Antiteilchen besitzen – im Gegensatz zu anderen Elementarteilchen wie Elektronen oder Quarks. Das Neutrino und das Antineutrino wären demnach identisch. Diese so genannte Majorana-Eigenschaft verursacht den neutrinolosen doppelten Beta-Zerfall. Dabei entsteht Materie ohne ausgleichende Antimaterie. Dieses Missverhältnis könnte auch bei der Frage weiterhelfen, warum im Universum kaum Antimaterie zu finden ist.

Nach diesem neutrinolosen doppelten Beta-Zerfall sucht das GERDA-Experiment im Gran Sasso-Untergrundlabor in Italien. Dieser kann sich in Germanium ereignen – genauer gesagt in seinem Isotop Germanium-76. Dabei wandeln sich gleichzeitig zwei Neutronen in zwei Protonen um, und es werden zwei Elektronen frei. Ein solcher Zerfall ist nach dem Standardmodell verboten, weil die normalerweise freiwerdenden Antineutrinos fehlen.

Experiment (fast) ohne störende Einflüsse

Um den neutrinolosen doppelten Beta-Zerfall mit Germaniumdetektoren nachzuweisen, ist es erforderlich, Störereignisse wie die natürliche radioaktive Strahlung auf ein Minimum zu reduzieren. Mithilfe verschiedener Techniken ist das dem GERDA-Experiment gelungen: Die Germaniumdetektoren hängen in einem Tank mit flüssigem Argon, dieser wiederum steht in einem Container mit hochreinem Wasser. Spezielle Sensoren sorgen außerdem dafür, dass sich falsche Signale, die von der kosmischen Strahlung herrühren, erkennen und herausfiltern lassen.

Damit ist GERDA als erstes Experiment in der Lage, die Existenz des Zerfalls auszuschließen, falls die Halbwertzeit (das ist statistisch gesehen die Zeit, in der die Hälfte der radioaktiven Atome zufallen ist) weniger als 1026 Jahre beträgt. Das ist um 16 Größenordnungen länger als das Alter des Universums! Anders ausgedrückt: In einem Zeitraum von 18 Jahren ist pro Kilogramm Germanium-76 mit weniger als einem Zerfall zu rechnen.

Was bedeuten die Ergebnisse für die Neutrinomasse?

Wenn sich die Majorana-Natur von Neutrinos bestätigen ließe, wäre dies auch ein Schlüssel für das Rätsel, warum das Neutrino so leicht ist. Kombiniert man die neue, mit GERDA ermittelte Untergrenze für die Halbwertszeit mit den Ergebnissen anderer Experimente zum neutrinolosen doppelten Beta-Zerfall, muss die Masse unter einem Wert von 0,07 bis 0,16 eV/c2 liegen (1 eV/c2 (Elektronvolt/Quadrat der Lichtgeschwindigkeit) entspricht der unvorstellbar geringen Masse von 1,8 × 10-37 Kilogramm).

Andere Instrumente grenzen die Neutrinomasse ebenfalls ein, allerdings ganz unterschiedlich: Der Planck-Satellit, der die Mikrowellen-Hintergrundstrahlung des Universums erforscht, kommt auf einen Wert von unter 0,12 bis 0,66 eV/c2 für die Summe der Massen aller bekannten Neutrinoarten. Das Tritium-Zerfall-Experiment KATRIN am Karlsruhe Institut für Technologie (KIT) untersucht die Masse des Elektron-Neutrinos und wird in den kommenden Jahren eine Messgenauigkeit von 0,2 eV/c2 erreichen. Zwar kann man kann die Werte all dieser Experimente nicht direkt miteinander vergleichen, aber sie erlauben es, unterschiedliche Modelle zu überprüfen. Bis jetzt lassen sich keine Widersprüche feststellen.

Aus GERDA wird LEGEND

Die aktuellen GERDA-Daten stammen aus dem Messbetrieb zwischen Dezember 2015 und April 2018; es waren Germaniumdetektoren mit einer Masse von insgesamt 35,6 Kilogramm im Einsatz. Für das Detektormaterial wird Germanium-76, dessen Anteil in der Natur bei 7,8 Prozent liegt, auf mehr als 85 Prozent angereichert.

Im nächsten Projektschritt, der unter dem Namen LEGEND firmiert, ist geplant, weitere Germaniumdetektoren einzubringen, um die Gesamtmasse auf 200 Kilogramm zu erhöhen. Parallel dazu ist es nötig, den störenden Untergrund weiter abzusenken, um die Empfindlichkeit der Messungen auf eine Halbwertszeit von 1027 Jahren zu steigern. Damit rechnen die Physiker*innen etwa fünf Jahre nach dem Start 2021.

 

Das Max-Planck-Institut für Kernphysik war einer der Initiatoren des GERDA-Projekts und wesentlich am Aufbau des Experiments beteiligt. Mitglieder der Abteilungen von Werner Hofmann und Manfred Lindner kümmerten sich um die Aufbereitung bzw. Beschaffung und Charakterisierung der Germaniumdetektoren sowie den Aufbau des Flüssig-Argon-Kryostaten. Bei der für die Unterdrückung des Untergrunds wichtigen Materialauswahl spielte die Expertise des MPIK bei der Bestimmung geringster Spuren von Radioaktivität eine entscheidende Rolle. Außerdem wurde die Lichtinstrumentierung zum Nachweis von Störsignalen am MPIK entwickelt. Und last but not least sind die MPIK-Wissenschaftler*innen an der Datennahme und -Analyse beteiligt.


Originalpublikation:
Probing Majorana neutrinos with double-β decay, GERDA Collaboration, Science online 5. September 2019, doi: 10.1126/science.aav8613

 

GERDA-Kollaboration

LEGEND-Kollaboration

Aufbau des GERDA-Experiments (Animation)


 

Kontakt

Prof. Dr. Dr.h.c. Manfred Lindner
Tel: +496221 516800
E-Mail: lindner@mpi-hd.mpg.de

Dr. Bernhard Schwingenheuer (stellv. Sprecher der GERDA-Kollaboration)
Tel: +496221 516614
E-Mail: bernhard.schwingenheuer@mpi-hd.mpg.de

Prof. Dr. Werner Hofmann
Tel: +496221 516330
E-Mail: werner.hofmann@mpi-hd.mpg.de


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Blick von unten auf die 7 Stränge von Germaniumdetektoren in ihrer Abschirmung während eines Umbaus. Die grünen Fasern sammeln das von Störereignissen im Argon erzeugte Licht.