Das Spiegelbild der Geisterteilchen

GERDA liefert keinen Hinweis, dass Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind

Neutrinos sind äußerst scheue Teilchen, die mit allen anderen Bausteinen der Materie nur extrem selten in Wechselwirkung treten. Sie haben ungewöhnliche Eigenschaften, und es wird sogar vermutet, dass sie mit ihren eigenen Antiteilchen identisch sind. Allerdings ist diese Eigenschaft bisher noch nicht experimentell bestätigt, gleichwohl haben 60 Jahre Neutrinoforschung unser Verständnis der Elementarteilchenphysik weit voran gebracht. Wissenschaftler der GERDA-Kollaboration konnten nun neue Grenzen setzen für den so genannten neutrinolosen Doppelbetazerfall, der überprüft, ob Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind. Das Resultat widerlegt eine frühere Entdeckungsmeldung und es ergeben sich wichtige Folgerungen für Kosmologie, Astrophysik und Teilchenphysik; dazu liefert es neue Informationen über die Neutrinomassen.

Neutrinos sind neben Photonen die häufigsten Teilchen im Universum. Sie werden oft ‚Geisterteilchen‘ genannt, weil sie so extrem selten mit Materie wechselwirken. Daher sind sie ein unsichtbarer, aber bedeutender Bestandteil des Universums und könnten etwa genauso viel Masse wie alle anderen bekannten Formen von Materie beitragen; dabei bewegen sie sich mit nahezu Lichtgeschwindigkeit über phantastische Entfernungen. Außerdem haben ihre winzigen Massen wichtige Folgen für die Strukturen im Universum, und sie sind die treibende Kraft bei der Explosion von Supernovae. Ihre bemerkenswerteste und wichtigste Eigenschaft aber wurde von Ettore Majorana in den 1930er Jahren vorgeschlagen: Im Gegensatz zu allen anderen Teilchen, aus denen die uns umgebende Materie besteht, könnten sie ihre eigenen Antiteilchen sein.

Das GERDA (GERmanium Detector Array) Experiment, das im Untergrundlabor Laboratori Nazionali del Gran Sasso des Istituto Nazionale di Fisica Nucleare in Italien betrieben wird, soll die Frage klären, ob Neutrinos tatsächlich ihre eigenen Antiteilchen sind, und ihre Masse bestimmen. GERDA untersucht so genannte Doppelbeta-Zerfallsprozesse des Germanium-Isotops Ge-76 mit und ohne Emission von Neutrinos – letzterer ist eine Konsequenz der Majorana-Eigenschaft. Beim normalen Betazerfall zerfällt ein Neutron in einem Kern in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino. Für Kerne wie Ge-76 ist dieser Zerfall energetisch verboten, aber die gleichzeitige Umwandlung von zwei Neutronen unter Emission zweier Neutrinos ist möglich und wurde kürzlich von GERDA mit bisher unerreichter Präzision gemessen. Es handelt sich um einen der seltensten jemals beobachteten Zerfälle mit einer Halbwertszeit von etwa 2*1021 Jahren – das rund 100-milliardenfache Alter des Universums. Falls Neutrinos Majorana-Teilchen sind, sollte der Doppelbetazerfall ohne Emission von Neutrinos ebenfalls stattfinden, und zwar mit einer noch geringeren Rate. In diesem Fall wird das Antineutrino des einen Betazerfalls vom zweiten beta-zerfallenden Neutron als Neutrino absorbiert, was nur möglich ist, wenn Neutrino und Antineutrino identisch sind.

Bei GERDA sind Germaniumkristalle zugleich Quelle und Detektor des Zerfalls. Natürliches Germanium enthält nur ca. 8% Ge-76, das deshalb um mehr als das 10-fache angereichert wurde, bevor daraus die speziellen Detektorkristalle gezogen wurden. Die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen ist eine Kleinigkeit gegenüber dem Nachweis des Doppelbetazerfalls, weil die Radioaktivität der Umgebung milliardenfach stärker ist. Die Detektorkristalle für GERDA und die sie umgebenden Teile wurden daher sehr sorgfältig ausgewählt und verarbeitet. Zur Beobachtung des äußerst seltenen Prozesses sind außerdem sehr ausgefeilte Techniken erforderlich, um den Untergrund von kosmischen Teilchen, natürlicher Radioaktivität der Umgebung und sogar dem Experiment selbst weiter zu unterdrücken. Den Wissenschaftlern gelingt dies, indem sie die Detektoren in der Mitte einer riesigen ‚Thermoskanne‘ betreiben, die mit extrem reinem flüssigem Argon gefüllt, mit hochreinem Kupfer ausgekleidet und von einem mit Reinstwasser gefüllten Tank von 10 m Durchmesser umgeben ist; der ganze Aufbau befindet sich unter 1400 m Gestein. Erst die Kombination all dieser innovativen und bahnbrechenden Techniken ermöglichte es, den Untergrund auf ein rekord-tiefes Niveau zu senken.

Im Herbst 2011 starteten die Messungen mit zunächst 8 Detektoren von der Größe einer Getränkedose und jeweils etwa 2 kg Gewicht; später kamen 5 weitere Detektoren neuer Bauart hinzu. Bis vor kurzem war der Signalbereich in den Daten ausgeblendet und die Physiker konzentrierten sich auf die Optimierung des Verfahrens zur Datenanalyse. Das Experiment hat jetzt seine erste Phase abgeschlossen und 21 kgJahre an Daten gesammelt. Die Analyse, für die sämtliche Kalibrierungen und Filter vor Verarbeitung der Daten im Signalbereich definiert waren, ergab kein Signal des neutrinolosen Doppelbetazerfalls in Ge-76, was zu der weltbesten Untergrenze für dessen Lebensdauer von 2,1*1025Jahren führt. Zusammen mit den Ergebnissen anderer Experimente schließt dieses Resultat eine frühere Behauptung, ein Signal gefunden zu haben, aus. Die neuen Resultate von GERDA haben interessante Konsequenzen für das Wissen über Neutrinomassen, Erweiterungen des Standardmodells der Elementarteilchenphysik, astrophysikalische Prozesse und Kosmologie.

In einem nächsten Schritt werden zusätzliche neu hergestellte Detektoren eingesetzt und damit die Menge von Ge-76 in GERDA verdoppelt. Sobald einige weitere Verbesserungen zur noch stärkeren Untergrundunterdrückung umgesetzt sind, soll eine zweite Messphase folgen.

GERDA ist eine europäische Kollaboration, die Wissenschaftler aus 16 Forschungsinstituten oder Universitäten in Deutschland, Italien, Russland, der Schweiz, Polen und Belgien umfasst. In Deutschland sind die Max-Planck-Institute für Kernphysik in Heidelberg und für Physik in München, die Technische Universität München, die Universität Tübingen und die Technische Universität Dresden beteiligt. Die Max-Planck-Gesellschaft ist wesentlicher Geldgeber des Projekts; die Universitäten werden vom BMBF und der DFG unterstützt.

Wissenschaftler des MPI für Kernphysik (MPIK) haben 2004 das GERDA-Experiment initiiert, um die Ergebnisse des Heidelberg-Moskau-Experiments zu überprüfen, wobei innovative Abschirmtechnik verwirklicht ist, bei der die Germaniumdioden in einer ultrareinen tiefkalten Flüssigkeit betrieben werden. Wesentliche Beiträge des MPIK umfassen die Konstruktion der mit flüssigem Argon gefüllten ‚Thermoskanne‘, die Aufarbeitung der angereicherten Dioden früherer Experimente, die Beschaffung natürlicher Germaniumdetektoren mit geringer Radioaktivität, die filigrane Detektoraufhängung und das Datenaufnahmesystem mit Software. Nicht zuletzt waren die MPIK-Forscher führend bei Auswahl und Überprüfung der Reinheit der Materialien für den Bau des Experiments. Außerdem lieferte das MPIK einen Detektorteststand und entwickelt ein Flüssigargon-Veto für die zweite Messphase. Eine wichtige Rolle dabei spielt die langjährige Expertise der Physiker und Techniker am MPIK mit sogenannten Low-Level-Techniken, also dem Aufspüren geringster Mengen an Radioaktivität. Die empfindlichen Messgeräte sind in einem Untergrundlabor vor kosmischer Strahlung geschützt.

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Originalpublikation:
Results on neutrinoless double beta decay of 76Ge from GERDA Phase I
GERDA collaboration, preprint, 16.07.2013, arXiv:1307.4720 [nucl-ex]

GERDA-Kollaboration

Video zu GERDA auf YouTube

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Kontakt:

Prof. Manfred Lindner
Tel.: 06221 516 800
E-Mail: manfred.lindner@mpi-hd.mpg.de

Prof. K. Tasso Knöpfle
Tel.: 06221 516 509
E-Mail: Karl-Tasso.Knoepfle@mpi-hd.mpg.de

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des MPIK

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Das Modell des GERDA-Experiments zeigt den schalenartigen Aufbau, bei dem zur Unterdrückung störender Signale aus der Umgebung von außen nach innen immer reinere Materialien eingesetzt sind. Die Germaniumdioden im Inneren des mit 64000 Liter flüssigem Argon (–186°C) gefüllten Kryostaten sind vergrößert dargestellt.

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Zur Abschirmung sind die Germaniumdetektoren mit einer Folie aus hochreinem Kupfer umhüllt.