Stereo, die Suche nach sterilen Neutrinos
Leichte sterile Neutrinos
In den letzten Jahrzehnten konnte durch den Nachweis von Neutrinooszillationen in zahlreichen Experimenten gezeigt werden, dass es sich bei den Neutrinos um massebehaftete Elementarteilchen handelt. Die Neutrino Flavoreigenzustände können als Linearkombination aus den Masseneigenzustände beschrieben werden, die sich mit unterschiedlicher komplexer Phase ausbreiten (siehe Abbildung 1). So können sich die Mischungsverhältnisse während der Ausbreitung des Teilchens ändern. Dies kann zu einer Umwandlung von einem Flavorzustand in einen anderen führen.
Abbildung 1: Darstellung der Flavormischung der Neutrinos. Die Flavorzusammensetzung der einzelnen Masseneigenzustände ist für die normale (links) und invertierte Massenhierarchie gezeigt.
Obwohl das Phänomen der Neutrinooszillationen inzwischen gut etabliert ist, gibt es experimentelle Beobachtungen, die nicht im Einklang mit der gängigen Theorie stehen. Eine der bekannesten ist hierbei die sogenannte Reaktor-Antineutrino-Anomalie (RAA). Die Neuberechnung des Elektron-antineutrino (
νe) Flusses im Jahr 2011 in Kombination mit den neuesten kernphysikalischen Datensätzen führten zu einer erhöhten Flussvorhersage für Reaktorneutrinos [1]. Der beobachtete Neutrinofluss von Experimenten an Kernreaktoren liegt nun deutlich unterhalb der vorhergesagten Werte. Dieses Defizit hat eine Signifikanz von etwa 2.7
σ. Auf dem Gebiet der Neutrinophysik gibt es noch weitere Spannungen zwischen Experiment und Vorhersage. Zum einen die LSND Anomalie bei der am Teilchenbeschleuniger eine
νe Komponente in einem
νμ Strahl entdeckt wurde [2]. Zum anderen wurde bei der sogenannten Gallium Anomalie in Quellexperimenten zur Detektorkalibration der Sonnenneutrinoexperimente GALLEX [3] und SAGE [4] eine etwas niedrigere Rate als erwartet nachgewiesen.
Abbildung 2: Überlebenswahrscheinlichkeit von Elektron Antineutrinos unter Berücksichtigung von 3 aktiven Neutrino Flavors (grau gestrichelte Linie) und unter der Hinzufügung eines zusätzlichen sterilen Neutrinos (schwarze durchgezogene Linie). Die Punkte zeigen den in Experimenten gemessenen Neutrinofluss bei Entfernungen zwischen Reaktor und Detektor von 10 m bis etwa 1 km.
Diese Anomalien könnten ein Hinweis darauf sein, dass das aktuelle Verständnis von Neutrinooszillationen noch unvollständig ist. Umwandlungen in weitere aktive leichte Neutrinozustände können aufgrund der Messungen der Zerfallsbreite des Z Bosons im LEP Experiment (CERN, Genf) ausgeschlossen werden. Deswegen wurde die Umwandlung in einen Neutrinozustand, der nicht an der schwachen Wechselwirkung teilnimmt (steriler Neutrinozustand), zu einem vielbeachteten Erklärungsansatz zur Beschreibung der verschiedenen Anomalien. In diesem Fall kann die Überlebenswahrscheinlichkeit für ein νe mit der Energie Eνe nach der Distanz L folgendermassen ausgedrückt werden:
P (νe→νe) = 1 - sin2(2θnew) sin2 (1.27 Δm2new L ⁄ E νe [eV]2 [m] ⁄ [MeV]) (1)
Die Existenz eines sterilen Neutrinos könnte über minimale Erweiterungen der Theorie im Standardmodell der Teilchenphysik erklärt werden [6]. Im Seesaw Mechanismus zum Beispiel wird unter der Annahme, dass rechtshändige Neutrinos innerhalb der elektroschwachen Massenskala existieren, die Masse der Neutrinos unterdrückt. Auf diese Art kann ein steriles Neutrino mit einer Masse im eV Bereich und beträchtlicher Mischung mit den aktiven Zuständen erklärt werden, ohne dass künstlich kleine Massenskalen oder Yukawa Kopplungen eingeführt werden müssen.
Die wahrscheinlichsten Bereiche für die hypothetischen neuen Oszillationsparameter, die die vorher beschriebenen Anomalien erklären könnten sind sin2(2θnew) ∼ 0.10 und Δm2new ∼ 1 eV2 [7]. Ziel des Stereo Experiments ist die Oszillationshypothese zu testen [8] indem das Energiespektrum der Neutrinos bei leicht unterschiedlichen Entfernungen vom Reaktor genau gemessen wird.
Nachweisprinzip und der Stereo Detektor
Abbildung 3: Schematischer Aufbau des Stereo Detektors.
Um die Existenz von sterilen Neutrinos zu überprüfen, will Stereo die Veränderung des Antineutrino-Energiespektrums bei kurzen Abständen vom Reaktor messen. Dazu wurde der Detektor bei einem mittleren Abstand von 10 m vom 58 MW Forschungsreaktor am Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble, Frankreich, platziert.
Die Signatur einer Oszillation von einem aktiven in einen sterilen Zustand hängt sowohl von der Energie als auch von der zurückgelegten Distanz des Neutrinos ab (Gleichung 1). Der Abstand zwischen zwei Oszillationsamplituden würde bei etwa 2 m erwartet. Deshalb ist der 2,2 m lange innere Detektorbereich in sechs identische Targetzellen mit unterschiedlichen Abständen zur Neutrinoquelle unterteilt (Abbildung 3). Mit diesem Aufbau ist das Stereo Experiment in der Lage relative Abweichungen im Neutrinospektrum zu messen und so die Existenz der sterilen Neutrinos nachzuweisen (Abbildung 4).
Die Reaktor-Antineutrinos werden im Stereo Detektor über den inversen Beta-Zerfall nachgewiesen: νe + p → e+ + n . Die Neutrinosignatur besteht aus einer verzögereten Koinzidenz eines Positronsignals und eines Neutroneinfangs. Die sechs zentralen Detektorzellen wurden hierzu mit einem Gadolinium beladenen organischen Flüssigszintillator gefüllt. Das Gadolinium hat einen hohen Wirkungsquerschnitt für den Einfang thermischer Neutronen.
Abbildung 4: Neutrinooszillationsspektrum für die dem Reaktorkern näheste (blau) und am weitesten entfernteste (rot) Zelle. Zum Vergleich ist in schwarz das erwartete Spektrum ohne Oszillationseffekt gezeigt.
Das Positron ionisiert die Moleküle des Flüssigszintillators und setzt durch Paarvernichtung mit einem Elektron zwei Gamma Quanten frei. Dieser Prozess ist sehr schnell und stellt das prompte Ereignis der Neutrinosignatur dar. Das Energiespektrum des Antineutrinos kann direkt aus der Energiedeposition des Positrons abgeleitet werden:
Ee+ = Eνe - 0.8 MeV (2)
Das Neutron thermalisiert innerhalb von wenigen Mikrosekunden im Flüssigszintillator und wird dann an einem Atomkern eingefangen. Der Einfang kann an einem Wasserstoffkern stattfinden woraufhin ein charakteristisches 2.2 MeV Gamma ausgesendet wird.
Beläd man den Szintillator mit Gadolinium, wird die Koinzidenzzeit wesentlich reduziert und eine 8 MeV γ-Kaskade erzeugt, die oberhalb von den typischen Energien der natürlichen Radioaktivität liegt.
Abbildung 5: Erwartete Sensitivität des Stereo Experiments nach 2 Jahren Datennahme im Parameterbereich (Δm2new,sin2(2θnew)). Der erwartete Bereich aus der Reaktor Antineutrino Anomalie ist gut abgedeckt.
Das Neutrinotarget ist von einem Flüssigszintillator ohne Metallbeladung umgeben. Dadurch sollen die Energieauflösung und Effizienz des Neutrinonachweises verbessert werden, indem Gammas, die das Targetvolumen verlassen, trotzdem nachgewiesen werden können. Das Szintillationslicht wird in insgesamt 48 Photosensoren (PMTs), die an der Oberseite des Detektors montiert sind, gesammelt. Diese PMTs sind oberhalb von einer Akrylschicht zur optischen Kopplung in eine mineralölartigen Flüssigkeit eingetaucht.
Aufgrund der Reaktorumgebung und der unmittelbaren Nähe zu benachbarten Neutronenstrahl-Experimenten ist das Experiment einem vergleichsweise hohen Fluss an Neutronen und Gamma-Strahlung ausgesetzt. Aus diesem Grund ist der Detektor von einer massiven Abschirmung aus B4C (Neutronen), Blei (Gamma Strahlung), Eisen (magnetische Abschirmung) und boriertem Polyethylen (Neutronen) umgeben. Zusätzlich befindet sich oberhalb des Detektors ein Wasser-Cherenkov Detektor um Myonen aus kosmischer Strahlung nachzuweisen.
Im Stereo Experiment können ∼ 400 Neutrinos pro Tag im Detektor gemessen werden. Nach etwa 2 Jahren Messzeit sollten ausreichend Daten zur Verfügung stehen um einen Großteil des erlaubten Parameterbereichs mit einem Konfidenzbereich von 95 % zu testen (Abbildung 5). Der Detektor wurde bereits am ILL in Betrieb genommen und nahm ab November 2016 erste Neutrinodaten.
Stereo am MPIK
Unsere Gruppe am MPIK liefert mehrere entscheidende Beiträge in unterschiedlichen Bereichen des Stereo Experiments. Dabei profitieren wir von den gesammelten Erfahrungen aus dem Double Chooz Reaktorneutrinoexperiment. Im Folgenden sind die Aufgaben der MPIK Gruppe aufgelistet:
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Design und Produktion der Detektor Flüssigkeiten: Am MPIK wurden mehr als 4000 Liter Flüssigkeiten für die inneren Detektorkomponenten in Stereo produziert, darunter der Gd-beladene Target- und der unbeladene Flüssigszintillator (FS). Der FS ist ein Gemisch aus mehreren organischen Lösemitteln, die teilweise am MPIK speziell gereinigt wurden. Um die Nachweiseffizienz für Neutronen zu erhöhen, wird der FS des Targets mit 0.2% Gd in Form eines Gd-Beta-Diketon Komplexes beladen. Die Anforderungen an den FS sind chemische und optische Stabilität über mehrere Jahre, Materialkompatibilität, radiochemische Reinheit und gute optische Eigenschaften. Ferner wurde der FS noch dahingehend optimiert, dass eine Unterscheidung zwischen Neutronenrückstoß und elektronartigen (Beta- und Gammastrahlung, sowie Positronen) Ereignissen möglich ist. Pulsformanalysen ebenso wie die Charakterisierung der Szintillatoreigenschaften werden bei uns am Institut durchgeführt.
Abbildung 6: Das Füllen des Stereo Detektors mit unserem MPIK Flüssigszintillator
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PMT Tests: Die Eigenschaften der Stereo Photosensoren wurden vor der Installation im Detektor am MPIK charakterisiert.
Diese Tests wurden in einem 30 m3 großen dunklen Faradaykäfig durchgeführt, der Schutz gegenüber elektromagnetischer Strahlung von außen bietet (Abbildung 7). Um unerwüschte Lichtreflexionen zu verhindern, wurden die inneren Wände mit schwarzem feuerfesten Gewebe abgedeckt. Die PMTs wurden zusätzlich mit Hilfe von zylindrischem μ-Metall gegen Einflüsse des Erdmagnetfelds abgeschirmt. Als Lichtquelle dienten LED Platten, die in der Elektronikwerkstatt des MPIK entwickelt wurden. Damit konnte Licht mit einstellbarer Intensität und mit unterschiedlichen Wellenlängen eingesetzt werden.
Abbildung 7: Tests der PMTs im abgedunkeleten Faradaykäfig des MPIK.
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Füll- und Gassysteme: Das MPIK ist in Stereo darüberhinaus für das Stickstoffsystem zuständig. Der Detektor wird bei konstantem Überdruck unter einer inerten Stickstoffatmosphäre betrieben. Außerdem wurden die Drucksensoren zur Bestimmung des Füllstands in den Detektorvolumina an unserem Institut vorbereitet (Abbildung 8). Der Stereo Detektor wurde im November 2016 durch Mitarbeiter des MPIK mit den eigens dafür entwickelten Systemen gefüllt.
Abbildung 8: Links: Vor Ort Inbetriebnahme des Gassystems. Rechts: Tests der Drucksensoren zur Bestimmung des Füllstands im Detektor.
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Werkstattaktivitäten: Die mechanische Werkstatt am MPIK hat stark am Design und der Produktion der PMT Halterungen mitgewirkt. Ferner wurden wichtige Teile zum Bewegen des Detektors oder im Bereich der Abschirmung gegenüber Reaktorstrahlung hergestellt.
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Datenanalyse: Für eine gute Energierekonstruktion im Stereo Detektor ist es wichtig die Kalibrationsdaten zu verstehen und intensiv zu analysieren. Ebenso muss das Detektorverhalten in Monte Carlo Simulationen ausreichend modelliert werden können. Auch in diesen Feldern liefert das MPIK führende Beiträge zum Experiment.
Referenzen
[1] P. Huber, Phys. Rev. C84, 024617 (2011) arXiv:1106.0687
[2] LSND Collaboration, Phys.Rev.D 64 112007 (2001)
[3] C. Giunti & M. Laveder, Phys.Rev. C83, 065504 (2011)
[4] SAGE Collaboration, Phys. Rev. C73, 045805 (2006), nucl-ex/0512041
[5] ALEPH Collaboration, Physics Reports 427 (2006) 257
[6] K. N. Abazajian et al., Light Sterile Neutrinos: A White Paper, hep-ph/1204.5376
[7] Stereo proposal (2012)
[8] C. Giunti et al., Phys. Rev. D88, 073008 (2013)
Kontakt:
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Dr. Christian Buck
Tel: 06221 516829
E-Mail: Christian.Buck@mpi-hd.mpg.de
- Prof. Dr. Dr.h.c. Manfred Lindner
Tel:06221 516800
E-Mail: manfred.lindner@mpi-hd.mpg.de