Abteilung für Teilchen- & Astroteilchen-Physik
 
 

Research: Theoretische Neu­tri­nophysik

Potenzial zukünftiger Neu­tri­noexperimente

Bereits existierende Technologien werden es ermöglichen, präzisere Messungen von Neu­tri­nomassen und -mischungen durchzuführen. Nichtsdestotrotz ist die Neu­tri­nophysik immer noch ein dynamisches Gebiet, in dem sich häufig neue Ideen für verbesserte und innovative Experimente ergeben. Die Gruppe hat sich führend an der Entwicklung einiger dieser Ideen beteiligt, sowie an ihrer Ausarbeitung und der Analyse ihrer Phy­sik­po­ten­zia­le. Neuere Beispiele sind die Untersuchung des Potentials neue Physik via den Prozess der elastischen kohärenten Neu­tri­no-Kern Streuung zu finden, der 2017 zum ersten mal beobachtet wurde, Vorschläge den Mößbauer-Effekt für Os­zil­la­tions­experimente zu nutzen, die Möglichkeit reine (Anti-)Elektronneutrinostrahlen aus beschleunigten Betazerfallisotopen zu nutzen, oder Analysen identischer Detektoren in Re­ak­tor­neu­tri­no­ex­pe­ri­men­ten, um systematische Fehler erheblich zu reduzieren.

Effekte von Nichtstandardwechselwirkungen Abbildung 1: Mögliche Effekte von Nichtstandardwechselwirkungen (NSIs) in zukünftigen Experimenten zu Neu­tri­nooszillationen: Gezeigt sind Werte des Parameters sin2 (2θ13) extrahiert aus zwei verschiedenen Experimenten. Zwei angenommene wahre Inputwerte sind durch die Sterne markiert. NSIs können für eine gemeinsame Verschiebung (Pfeil entlang der Diagonalachse) oder sogar Inkonsistenzen (Pfeil orthogonal zur Diagonalchse) verantwortlich sein.

Verschiedene Ideen für zukünftige Experimente wurden oft individuell und verschieden de­tail­liert diskutiert. Die enormen Ausmaße die­ser Anlagen im­pli­zie­ren je­doch, dass man idealerweise ihr Phy­sik­po­ten­zi­al in rea­lis­tischen Si­mu­la­tio­nen und auf derselben Ba­sis evaluieren muss. Das Softwarepaket GLobES (Global Long baseline Event Simulator) wurde aus diesem Grund in der Gruppe entwickelt. Die Software wird von der Gruppe weiter benutzt und entwickelt, und ist mittlerweile weltweit in Gebrauch. GLobES basiert auf einer sog. "abstract experiment definition language", die es erlaubt alle relevanten Aspekte existierender und zukünftiger Experimente einzubeziehen. Es leistet eine auf Ereignisraten basierende Analyse des Phy­sik­po­ten­zi­als der betreffenden Experimente. Viele Si­mu­la­tio­nen von Reaktor- oder Beam­experimenten, Empfindlichkeit auf Nicht-Standard-Wechselwirkungen (NSIs, siehe Abbildung 1) oder Synergieeffekten von Kombinationen verschiedener Neu­tri­noquellen wurden durchgeführt. Ein markantes Beispiel ist die Kom­bi­na­tion von long-baseline Experimenten mit Reaktorexperimenten, welche in wenigen Jahren sogar zum ersten Nachweis leptonischer CP-Verletzung führen könnte. Diese Si­mu­la­tio­nen implizieren nicht nur die besten experimentellen Strategien, sondern zeigen wie die Situation von Fortschritten in Detektor- und Quellentechnologie abhängt. Sie sind daher nicht nur für die Planung von Projekten wichtig, sonder auch für R & D von Quelle und Detektor. Die Si­mu­la­tio­nen der International Neu­tri­no Factory Scoping Study (ISS) und der Neu­tri­no Factory International Design Study (IDS) basierend zum größten Teil auf GLobES.

Neben diesen numerischen Werkzeugen wurden analytische Methoden in der Gruppe entwickelt, welche es möglich machen, den mul­ti­di­men­sio­na­len Parameterraum der 3-Flavour Neu­tri­nooszillation in Materie systematisch zu erfassen und zu verstehen. Darüber hinaus wurden andere Si­mu­la­tio­nen durchgeführt, welche das Potenzial ana­ly­sie­ren, die absolute Massenskala der Neu­tri­nos in Experimenten mit Betazerfällen, neutrinolosem Doppelbetazerfall und kosmologischen Messungen zu bestimmen.

Neu­tri­nophysik und Ursprung des Flavours

Im letzten Jahrzehnt hat sich ein konsistentes Bild der Neu­tri­nooszillationen ergeben, und die erstaunliche Entdeckung großer Mischungen im Leptonsektor hat neues Licht auf das Problem des Flavours geworfen. Das Problem des Flavours ist jedoch immer noch fern jeder Lösung, obwohl augenscheinliche Regelmäßgkeiten in den Fermionmassen (siehe Abbildung 2) und -mischungen suggerieren dass die drei Fer­mi­on­ge­ne­ra­tionen, Neu­tri­nomassen und Lep­ton­mi­schungen, sowie Quarkmassen und -mischungen von einer noch aufzustellenden Theorie des Flavours vereinheitlicht werden könnten.

Die Struktur und die Eigenschaften des See-Saw Mechanismus (und seiner Varianten) kann durch die ungewöhnliche Struktur der Leptonmischung eingeschränkt werden. Zukünftig werden Präzisionsmessungen der Neu­tri­noparameter weitere wertvolle Informationen liefern. Durch Kom­bi­na­tion von bereits präzisen Experimenten zur Quarkmischung ergibt sich das Potenzial die verschiedenen vorgeschlagenen Theorien, welche auf Flavoursymmetrien beruhen, zu unterscheiden. Darüber hinaus gibt es starke theoretische Hinweise, die auf die Vereinigung der Eichkopplungen bei hohen Energien hindeuten. Dies geschieht in Verallgemeinerungen des Standardmodells wie etwa dem Minimal Supersymmetric Standard Model (MSSM). Dies wiederum ist ein starkes Argument für die Existenz einer Grand Unified Theory (GUT), in der die bekannten Quarks und Leptonen derselben Generation in GUT Multiplets vereinigt sind.

Fermioninhalt des Standardmodells
Abbildung 2: Der Fermioninhalt des Standardmodells. Gezeigt sind die drei Generationen der vier Fermiontypen und ihre individuellen Massen in Relation zu einander. Ebenso ist gezeigt in welche Richtung GUTs (hier SO(10)) und Flavoursymmetrien (hier SU(3)) wirken.

Informationen über Neu­tri­nomassen sind hier nützlich, weil rechtshändige oder sterile Neu­tri­nos verschiedene GUT Gruppen und/oder Darstellungen benötigen. Wegen den Hinweisen auf GUTs und Flavoursymmetrien hat die Gruppen Theorien studiert, welche Flavorsymmetrien in GUTs einbetten. Die Vorhersagen solcher Theorien sind Gegenstand von Quantenkorrekturen, die die Vorhersagen signifikant modifizieren können. Diese Renormalisierungsgruppenkorrekturen speziell der Neu­tri­nomassen und -mischungen wurden für verschiedene Fälle systematisch studiert.

Alle diese Aspekte werden dazu führen, dass Modelle für Neu­tri­nomassen einer Vielzahl von Einschränkungen gegenüber stehen müssen, und eine große Menge von exzellent gemessenen Grössen erklären müssen. Dazu kommen neue experimentelle Informationen aus Suchen nach Lep­ton­fla­vour­ver­let­zung, vom LHC und aus der As­tro­teil­chen­phy­sik. Dieses Wechselspiel zwischen Theorie und Experiment kann dazu führen dass aus der Vielzahl der vorgeschlagenen Flavorsymmetrien nur wenige Kandidaten überleben, was uns näher zu einer Theorie des Flavors führt. Ein Ansatz, der aktiv von der Gruppe verfolgt wird, ist die Anwendung konformer Symmetry (oder klassischer Sakeln Invarianz), in der Massenterme ,insbesondere die quadratischen Terme im Higgs Potential, in erster Ordnung (Tree Level) verboten sind. In diesem Fall bewirken Schleifenkorrekturen des Potentials einen nicht-verschwindenden Vakuumerwartungswert des Skalaren Higgs Felds und erzeugen somit Massenskalen.

Nichtgleichgewichts-QFT Analyse der Leptogenese

Eine bedeutende Fragestellung im Bereich der Astroteilchen Physik ist die nach dem Ursprung der Materie-Antimaterie-Asymmetrie (Baryon-Asym­me­trie) des Universums. Diese kann nur dann erzeugt werden, wenn die sogenannten Sakharov Bedingungen erfüllt sind. Obwohl das Stan­dard­mo­dell der Teilchenphysik all diesen Anforderungen genügt, sagt es eine Baryonasymmetrie vorher, die viele Größenordnungen unterhalb der beobachteten liegt. Verschiedene Erweiterungen des Standardmodells gestatten aber die Erzeugung einer Asymmetrie der richtigen Größenordnung. Der derzeit überzeugendste Mechanismus wird als Leptogenese bezeichnet. Er steht mit dem sogenannten See-Saw Mechanismus in Beziehung, der die Kleinheit der Massen der bekannten leichten Neu­tri­nos erklärt. Innerhalb dieses Szenarios wird zunächst eine Lepton-Asymmetrie erzeugt, die dann nachträglich in die gewünschte Baryon-Asymmetrie umgewandelt wird. In der Vergangenheit hat die Abteilung verschiedene interessante Realisierungen dieses Leptogenese Szenarios beigesteuert und die Beziehung zu Neu­tri­nomassen-Modellen untersucht. Die populärste Realisierung basiert auf dem Zerfall schwerer Majorana Neu­tri­nos, deren Ver­tei­lungs­funk­tion durch die rasche Expansion des Universums vom Gleichgewicht abweicht. Die neueste Aktivität auf diesem Gebiet wurde durch die Tatsache inspiriert, dass es unklar ist, ob die extremen Bedingungen des frühen Universums zum Zeitpunkt der Leptogenese überhaupt die Verwendung thermodynamischer Gleichungen bzw. von Boltzmanngleichungen zur Berechnung der Asymmetrie ge­stat­ten. Der Gültigkeitsbereich dieses traditionellen Ansatzes kann durch die Verwendung von Methoden der Nichtgleichgewichts-Quantenfeldtheorie (NEQFT) bestimmt werden. Diese ermöglichen die Berechnung von Korrekturen zu den Ergebnissen der konventionellen Analyse und legen verschiedene qualitativ neue Effekte offen.

Zerfallsamplitude der Majorana Neu­tri­nos
Abbildung 3: Beiträge zur Zerfallsamplitude der Majorana Neu­tri­nos im Medium.

Im Gegensatz zum konventionellen Ansatz, der auf Ver­tei­lungs­funk­tio­nen von On-Shell Teilchen beruht, basiert NEQFT auf Zwei­punkt­kor­re­la­tions­funk­tion - Spek­tral­funk­tionen und statistischen Propagatoren - der Quantenfelder. In der Sprache des konventionellen Zuganges legen die ersteren die On-Shell Bedingung fest, während letztere Informationen über die Ver­tei­lungs­funk­tion beinhalten. Im Allgemeinen ist das aber eine zu starke Vereinfachung: die Zwei­punkt­kor­re­la­tions­funk­tio­nen sind nämlich nicht auf On-Shell Teilchen beschränkt und enthalten mehr Information. Deshalb sind sie hervorragend für die Analyse der Hauptursache der Leptogenese (der CP-verletzenden Mischung schwerer Majorana Neu­tri­nos) geeignet. Das ist besonders wichtig für die Berechnung der CP-Verletzung im beliebten Szenario der resonanten Leptogenese. Des Weiteren beinhalten die Korrelationsfunktionen automatisch Effekte, die durch durch die endliche Dichte bedingt sind und stellen einen hervorragenden Ausgangspunkt für die Berechnung effektiver CP-verletztender Pa­ra­me­ter, von Massen und Zerfallsbreiten im Medium dar. Ein weiterer Vorteil ist die selbst-konsistente Struktur der entsprechenden dynamischen Gleichungen - der Kadanoff-Baym Gleichungen - die es uns erlauben Effekte zu untersuchen, die innerhalb des herkömmlichen Formalismus nicht beschrieben werden können. Alles in allem stellt der NEQFT Formalismus ein mächtiges Werkzeug dar, das Möglichkeiten eröffnet, die weit über die heute übliche Analyse der Materie-Antimaterie Asymmetrie hinaus gehen.

Indem wir NEQFT auf ein einfaches Toy-Modell der Leptogenese angewandt haben, konnten wir zeigen, dass qualitative und quantitative Unterschiede zwischen den Rechnungen innerhalb des konventionellen Formalismus und diesem bestehen. Insbesondere ist letzterer frei vom sogenannten Double-Counting Problem, welches in der konventionellen Herangehensweise zunächst dazu führt, dass selbst im thermischen Gleichgewicht eine nicht-verschwindende Asymmetrie erzeugt wird. Des Weiteren unterscheidet sich die Abhängigkeit der Ergebnisse für Massen, Zerfallsbreiten und CP-verletzenden Parameter von den Ver­tei­lungs­funk­tio­nen von Leptonen und Higgs-Teilchen, von der die früher im Rahmen von Gleichgewichts-Quantenfeldtheorie gefunden wurde. Das führt auch zu einem quantitativ unterschiedlichen Ergebnis für den CP-verletzenden Parameter und folglich auch für die erzeugte Asymmetrie. Die Korrekturen sind im Fall der resonanten Leptogenese besonders groß und können mehrere 100% erreichen. Wir arbeiten gegenwärtig auch an Verallgemeinerungen der erhaltenen Ergebnisse für den besonders interessanten Fall des Standardmodells, das um drei schwere Majorana Neu­tri­nos erweitert wird.

Supernova Neu­tri­nos

Crab Nebula
Abbildung 4: Falschfarbenbild eines Supernovaüberrests (Krebsnebel)

Einige Sterne beenden ihr Leben in einer gigantischen Explosion, einer sogenannten Su­per­no­va, welche für kurze Zeit heller strahlt als eine ganze Galaxie. Dabei werden enorme Energiemengen frei­ge­setzt. Etwa 99% der frei werdenden Energie wird in Form von Neu­tri­nos emittiert. Im Fall einer galaktischen Supernova würden tausende Neu­tri­nos auf der Erde detektiert werden. Die Gruppe untersucht, was wir von solchen von einer Supernova stammenden Neu­tri­nos lernen können. Außerdem arbeitet die Gruppe an physikalischen Herausforderungen, die sich er­ge­ben, wenn Neu­tri­nos durch solch dichte Materie propagieren.

Wir erwarten nur einige wenige galaktische Supernovae pro Jahrhundert. Da wir keine Möglichkeiten haben vorherzusagen, wann eine solche galaktische Supernova stattfinden wird, müssen wir möglichst gut vorbereitet sein, wenn sie stattfindet. Eine Möglichkeit besteht darin Neu­tri­nos als "Frühwarnsystem" bzw. Auslöser für optische Untersuchungen und Gra­vi­ta­tion­smes­sung­en zu nutzen. Da die Neu­tri­nos die äußeren Regionen der Supernova beinahe ungestört durchqueren können, erreichen sie die Erde Stunden oder sogar Tage bevor die ersten optischen Lichtsignale die Erde erreichen. Mithilfe genauer Zeitmessung durch verschiedene Neu­tri­no Detektoren an unterschiedlichen Orten kann eine potentielle Supernova durch Triangulation am Himmel lokalisiert werden, sodass anschließend optische Detektoren auf die entsprechende Himmelsregion ausgerichtet werden können.

Eine präzise zeitliche Messung des Neu­tri­no Signals einer Supernova kann dazu genutzt werden, die absolute Neu­tri­nomasse zu bestimmen. Indem man die Flugzeiten von Neu­tri­nos und Gra­vi­ta­tions­wel­len oder Neu­tri­nos verschiedener Energien vergleicht, kann die durch eine endliche Masse herbeigeführte Zeitverzögerung bestimmt werden. Somit kann die Masse entweder genau gemessen oder zumindest nach oben begrenzt werden.

Aufgrund extremer Dichten und hoher Energien können Supernovae des Weiteren als Testlabor für Physik jenseits des Standardmodells dienen. So würde die Existenz von sterilen Neu­tri­nos mit keV Massen die Dynamik einer Supernova beeinflussen und zu spektakulären Signalen führen.

Darüber hinaus bietet die hohe Zahl an Neu­tri­nos, die von einer Supernova emittiert wird, eine einmalige Umgebung zum Studium von Neu­tri­nooszillation d.h. wie Neu­tri­nos ihren Flavor wechseln. Indem Neu­tri­nos mithilfe von Wellenpaketen beschrieben werden, können die Effekte von Dekohärenz an Supernova Neu­tri­nos studiert werden. Zusätzlich könnte die große Zahl an emittierten Neu­tri­nos zu sogenannten kollektiven Oszillationen führen, bei denen das Wechseln des Flavors sehr rapide auftreten kann. Ob kollektive Oszillationen in Supernovae präsent sind bleibt eine offene Fragestellung, die mithilfe numerischer Si­mu­la­tio­nen ,analytischer Modelle und Sta­bi­li­täts­analysen untersucht wird.

Neu­tri­nos als Sonden für neue Physik

Erweiterungen des Standardmodells, welche Neu­tri­nomassen und Leptonmischung beschreiben, haben interessante Verbindungen zur Baryogenese, Lepton-flavourverletzung, Leptonzahlverletzung, Verletzung von B + L, sterilen Neu­tri­nos, links-rechts symmetrischen und/oder su­per­sym­me­tri­schen Theorien, elektroschwacher Sym­me­trie­bre­chung, Grosser Vereinheitlichung, zusätzlichen Raumdimensionen, dunkler Materie und Energie. Neu­tri­nos sind ebenso direkte und einzigartige Proben für das frühe Universum, das hochenergetische Universum, das Innere von Sternen, insbesondere unserer Sonne, Reaktoren, und des Erdinneren. Das gesamte Spektrum dieser Themen wurde, und wird weiterhin, von der Gruppe untersucht. Es gibt viele Gründe zu erwarten, dass die Kom­bi­na­tion von theoretischen Entwicklungen und experimentellen Resultaten es der Gruppe ermöglichen auf breiter Ba­sis zum Verständnis des Universums und der Physik jenseits des Standardmodells beizutragen.

 
 


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